Die Frau rückt mit dem Zeigefinger die große Barbra-Streisand-Brille auf der Nase zurecht, zieht eine Schublade auf, wühlt sich durch den Blätterstapel einer Ablage, steht auf und schlurft zu einem alterschwachen Regal in der Ecke. Suchend fliegt ihr Blick über die einzelnen Regalböden, dann schüttelt sie die braunen Locken. „Momentito“, sagt sie, geht durch die verglaste Schwingtür und die Treppe hoch in den oberen Stock. Eine Karte von Búger zu finden, der kleinsten Gemeinde Mallorcas, scheint selbst hier im Rathaus eine schwierige Aufgabe zu sein.
Draußen hält der rot-gelbe Linienbus der mallorquinischen Verkehrsgesellschaft tib und verursacht einen Stau im einzigen Kreisel des Ortes. Ein Mann und eine Frau steigen aus. Der Bus fährt weiter. Es wird wieder ruhig. Im Bürgeramt säuselt das Telefon eine kleine Melodie, als wolle es sich dafür entschuldigen, dass eine Karte des Ortes nicht aufzutreiben ist. „No mapa“, radebricht die kleine Dame hinterm Tresen und hebt entschuldigend die Schultern, „kein Stadtplan, leider.“ Vale, es wird auch ohne gehen. Schließlich hat Búger nur rund 1000 Einwohner und 35 Straßen.
Während jedes Jahr fast 14 Millionen Urlauber einem Flieger in Palma de Mallorca entsteigen und sich in der Hochsaison über die Promenaden der Badeorte drängen, geht es in Búger beschaulicher zu. Der Ort liegt rund 50 Autominuten von Palma entfernt, blickt im Osten bis zur Bucht von d’Alcudia und wird im Norden und Westen von den Ausläufern des Tramuntana-Gebirges geschützt. Stau und Gedränge gibt es höchstens, wenn der Linienbus L333 acht Mal am Tag auf der Plaça Constitutió hält und dem Ort mit Inca, Campernet und Sa Pobla verbindet. Der Platz mit dem Brunnen ist gleichzeitig Kreisel, Dorfplatz und Ortsmitte. Nur die hell- und dunkelgrau gefärbten Pflastersteine lassen erahnen, wo der Platz anfängt und die Straße aufhört. Wer die Ruhe sucht, das unverfälschte Mallorca und nette, hilfsbereite Menschen, ist in Búger genau richtig.
Von der Autobahn Ma-13 sieht Jeder, der vorbeifährt, das Dorf mit der Kirche Sant Pere, die wie ein Kerzenstummel auf einem dicken, gelblichen Ziegelstein auf der Kuppe des kleinen, rund 100 Meter hohen Berges steht, an den sich die Häuser schmiegen. Über ihrem viereckigen, historischen Gebäude thront der schmale Kirchturm, dessen Glocke den Bewohnern verlässlich die Stunde schlägt.
Wer Sant Pere besichtigen will, muss vom Kreisel vor dem Rathaus rechts der Carrer Major folgen, an der Bank vorbei und über den großen autofreien Platz, auf dem Rafel täglich seine Forn i Pastisseriaöffnet. Hier riecht es süß und staubig, nach Zuckerguss und Mehl. Mallorquinische Leckereien wie Mantecados und Turron, Cositas Patata und kindskopfgroße pan mallorquin-Brote liegen hier in der Auslage. „Búger ist ein toller Ort“, schwärmt Rafaell Solivellas Herrera, der seit zehn Jahren das Can Rafel betreibt. „Es ist ruhig, jeder kennt jeden“, sagt kurze, stämmige Mann mit dem fleckig-weißen T-Shirts eines fleißigen Bäckers. „Wir liegen auf diesem Hügel und vor uns breitet sich Mallorca aus.“
Vor allem bei Radfahrern ist Búger ein beliebter Halt. Wenn sie nicht am Brunnen mit seiner mannshohen Sandstein-Kerze – dem Stadt-Symbol, verschnaufen, pausieren sie im Haus des Pfarrers, dem Ca’s Rector, unterhalb der Kirche. Die Església ist nun verschlossen, aber sonntags füllt sich erst die Gaststätte von Pächterin Josefa Martin und dann das Gotteshaus. Draußen auf der Terrasse gönnt sich an diesem Nachmittag eine Gruppe britischer Radfahrer eine Auszeit bei Cava und Bier. Während die dunkelhaarigen Freundinnen an ihren Sektkelchen nippen, schiebt eine Dame ihre Sonnenbrille in die blonden Haare, um ihren Sonnenschutz aufzufrischen. Ein Mann in schwarzer Profi-Radler-Kleidung und umgedrehter Käppi hat sich wie eine Sonnenblume den wärmenden Strahlen zugedreht und die Augen geschlossen. Ein deutscher Rentner sitzt an einem der runden Bistro-Tische, den weißen Cesar-Hund zu seinen Füßen, die Bild-Zeitung in der Hand und den Kaffee auf dem Tisch. Im schummrigen Innern des Ca’s Rector schwirrt mallorquinisches Stimmengewirr durch den olivgrün gestrichenen Raum. Jordi Buades bringt Bier und Pa amb oli – mit Schicken und Käse belegte Brote, die mit Olivenöl gewürzt sind – zu den Männern an die Tische. Warum die Gaststätte Haus des Pfarrers heißt, weiß der schlanke, schwarzhaarige Mann nicht, Das Gebäude gehört der Kirche, aber der Rector wohnt gegenüber und nicht etwa über dem Gastraum.
Seit 25 Jahren betreibt seine Mutter – mittlerweile mit Unterstützung ihrer Söhne – das Restaurant. Hier trifft sich das Dorf, um Hochzeiten und Geburtstage zu feiern. Die Sportsbar am Dorfplatz, neben dem Can Rafel, wurde erst vor ein paar Jahren von ihrem jetzigen Besitzer eröffnet. Jordi hebt fast entschuldigend die Schultern. „Alle kommen zu uns. Wir sind hier wie eine große Familie.“ Er zapft ein Bier und schiebt es dem Gast hin, der am Tresen Platz genommen hat. Früher hat Jordi als Model für namhafte Designer wie Dolce & Gabana und Versace gearbeitet. Stolz wischt er von Aufnahme zu Aufnahme in seinem Smartphone, dessen Oberfläche ein zartes Splittermuster durchzieht. Dann zapft er ein neues Bier. „Jetzt aber nicht mehr – jetzt bin ich nur noch Barmann“, meint er.
Hinter der Kirche, an der Carrer d’es Molins, ragen die Türme von vier Mühlen aus dem beigefarbenen Häuserwald. Früher galt Búger als Hochburg der Mehlproduktion wegen seiner Lage auf dem Hügel und dem damit zusammenhängenden starken Wind. Jetzt fehlen den Mühlen Hut und Flügel. Sie dienen als Wohnhäuser und nur noch die Spatzen sitzen auf den aufragenden Gebäude und piepen. Ruhig ist es hier am Rand des Ortes. In der Ferne bellen Hunde und meckern Ziegen. Das leise Schellen von Glöckchen schwirrt durch die Gassen und vermischt sich mit dem Rascheln der Pappelblätter.
Pünktlich mit dem Schlag der Kirchturmglocke um halb fünf öffnet Anna den kleinen Laden in der Carrer l’Obrer Miquel Tortella, den es seit einigen Jahren in Búger gibt. Hier erhalten die Bugerros alles für ihren täglichen Bedarf. Wer einen größeren Einkauf erledigen will, muss den Bus nehmen oder am Brunnen auf eine Mitfahrgelegenheit hoffen. Während zwei junge Männer mit Einkaufskörben zu ihren Füßen auf dem Rand des großen Kerzenständers sitzen und warten, spielen drei Geschwister auf der Carrer Major. Das Rattern eines roten Kinderplastikmotorrads dringt durch die Gassen. Rafel steht vor seiner Bäckerei und trinkt eine Tasse Kaffee. Eine Gruppe junger Leute geht in Richtung Ca’s Rector. Während die Mutter den laut weinenden Kleinen ins Haus holt, sammelt ein weißer Kleinwagen die jungen Männer ein. Dann ist es wieder ruhig auf dem Hügel von Búger.
(Dieser Artikel entstand im Zuge des Kurses „Reisereportage vor Ort“ des Medienbüros Hamburg.)